„Wie stellst du dir dein Auslandsjahr eigentlich vor?“ An diese Frage erinnere ich mich wie an keine andere vor meinem Abflug in die USA und ich konnte sie damals nur schwer beantworten. Genauso schwer fiel es mir allerdings die Gegenfrage ein Jahr später zu beantworten. „Du, wie war eigentlich dein Austauschjahr?“ Denn wie sollte ich anderen von etwas erzählen, über das ich mir selbst noch nicht im Klaren war?
Jetzt, knappe fünf Monate nach meinem Rückflug, weiß ich auf die Fragen zu antworten, tue es aber nicht. Nicht weil ich unfreundlich bin und keine Lust habe mich mit Leuten zu unterhalten, sondern weil ich es nicht kann. Die Menschen geben sich mit meinen Antworten zufrieden wie: „Es war schön, ich hatte schlechte Tage, doch im Großen und Ganzen war es eine super Erfahrung.“ Und eben das ist das Problem, das Große und Ganze. Ein Jahr in einem anderen Land mit einer anderen Kultur, anderer Sprache, anderen Werten und auch mit einem anderen Leon Kutscher. Ich habe so viel zu erzählen, über Situationen und Gefühle, doch kann es nicht, weil es niemand so verstehen wird wie ich. Auf der Nachbereitungstagung konnte man sich annähern, an die an die „Aufarbeitung“ wie man so schön sagt und es steht außer Frage, dass es geholfen hat, doch trotzdem wird keine Übung, keine Gruppenkonversation und kein Teamer (freiwillige Arbeiter bei YFU) mich mit meinen Gedanken dahin bringen, wo ich gerne hin würde. Das alles heißt aber nicht, dass ich nicht erzählen werde, über das Wichtige, denn darum geht es schließlich in diesem Bericht.
Ich lebte mit einer Familie in St. Louis, Missouri im mittleren Westen der USA. Dort hatte ich neben den Gasteltern auch einen Gastbruder in meinem Alter und einen Hund. Meine Familie war streng christlich und neben dem wöchentlichen Kirchengang wurden auch alle anderen Einstellungen, ob politisch oder moralisch von der Religion geprägt. „Was in der Bibel steht ist Gesetz.“ Ich pflegte meinen Glauben in Deutschland wie es die meisten anderen in meinem Alter auch tun. In der Kirche, zu Weihnachten und Ostern, und wenn gefragt wird, sage ich, dass ich glaube, aber etwas dafür tun ist nicht drin. Ständig kollidierten meine Meinungen mit denen meiner Gasteltern, doch ließ ich sie das nie wissen um den Haussegen nicht zu erschüttern. Also machte ich das mit mir selber aus und so änderte sich meine Einstellung zu Religion rapide. Ich erzähle dies alles so genau, da es für mich auch jetzt in Deutschland einen spürbaren Unterschied macht. Ich denke anders und handele anders, während kein Tag vergeht, an dem ich nicht die Erinnerungen an dieses Thema in meinem Auslandsjahr wieder hervorrufe. Trotz dieser Gegenseitigkeiten bin ich meiner Gastfamilie sehr dankbar, denn es ist nicht selbstverständlich jemand Fremdes für eine solch lange Zeit aufzunehmen.
Abgesehen von meiner Gastfamilie hatten so viele andere Menschen so viele verschiedene Einflüsse auf mich, gute wie schlechte. Es dauerte ein wenig, bis ich den wirklichen Anschluss finden konnte, doch durch Sport und zum Beispiel einer Deutsch AG war es nicht unmöglich. Am Wochenende sind wir oft herumgefahren, haben Leute getroffen und eine gute Zeit gehabt, an die ich mich gerne zurückerinnere. Auch hatte ich eine tolle Gemeinschaft von Seiten der YFU. Egal ob Däne, Finne, Polin oder Türkin, wir verstanden uns alle sehr gut und spielten zum Beispiel in der Freizeit zusammen Fußball oder hatten Pool-Partys im Sommer.
Kulturell finde ich Amerika auch äußerst interessant. Das amerikanische Essen habe ich zu lieben und schätzen gelernt, wobei ich nicht von Burger King oder Taco Bell spreche, sondern von Barbecue und Pizza. Wer nach Amerika fährt muss die Chicago Big Pizza und Pulled Pork auf jeden Fall probieren. Genauso wie „Maccaroni and Cheese“, meine drei absoluten Favoriten. Ich war auch mehrmals in Konzerten von einem sehr interessanten Orchester oder Aufführungen wie „Das Phantom der Oper“, was deutlich zeigt, dass Amerika mehr zu bieten hat als Partys und Alkohol, wie es Filme doch gerne aufzeigen. Außerdem habe ich die Rassenprobleme, das heißt Rassismus und Unterschiede von Schwarz und Weiß, hautnah mitbekommen. Eine halbe Stunde von meinem Gasthaus lag nämlich der Ort Ferguson, in dem letzten Sommer Michael Brown erschossen wurde, was Demonstrationen und Gewalt nach sich zog. So konnte man auch die schlechten Seiten des Landes unbegrenzten Möglichkeiten kennenlernen, was definitiv zur Austauscherfahrung dazugehört.
Doch was haben mir all diese Erfahrungen gebracht, oder haben sie überhaupt etwas gebracht?
Und ich muss sagen: Ja! Ja, ich würde es nochmal machen. Ja, es ist nicht einfach. Und ja, ich würde es jedem anderen empfehlen. Man lernt selbstständiger zu werden, sich Menschen anzunähern und sein Leben anders wahrzunehmen. Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich vorher war und bereue es nicht im Geringsten. Ich fühle mich erwachsener und ein Stück unabhängiger, weil ich weiß, was ich alleine schaffen kann. Ich stehe auch noch immer mit Amerikanern in Kontakt und werde diesen Kontakt auch weiterhin pflegen.
Abschließen lässt sich sagen, dass ich an Lebensfreude dazu gewonnen habe und ich bin allen Menschen dankbar, die mir das alles ermöglicht haben.
Leon Kutscher